Der Beitrag wurde schon Mitte Juli geschrieben, aber ich war trödelig…

Ich sitze in Zeeland am Strand, ich hab ein bisschen Zeit, den der beste Ehemann von allen läuft mit Elvis dem Pudel den Strand entlang, während ich meinen geschienten Knöchel hochlagere. Gestern, als wir gerade aufbrechen wollten, knicke ich auf der Treppe richtig blöd um und gucke anschließend zu, wie mir links am Fuß ein Tennisball wächst. So auch noch nicht gesehen 🤔 Also ab in die Notaufnahme, Röntgen, wenigstens nicht gebrochen, aber eine ziemlich heftige Prellung und Bänderdehnung. Tut sehr weh. Auftreten kaum möglich, was ungünstig ist, denn morgen Abend startet hier in Renesse mein Bildungsurlaub mit Hund! Natürlich auch mit Wandern und Bewegung. Bleibt also nur die leise Hoffnung, dass der Tennisball schnell kleiner wird. Wie auch immer, ich bleib hier mit Hund am Meer und was geht, geht und was nicht, das nicht 🤷♀️.
Gestern, als wir her gefahren sind, war so eine Art Hochzeitsfeier ( auf der Einladung stand Polterabend nach der Hochzeit 🤔) von meiner Nichte. Ich habe überlegt, ob ich nicht doch lieber da wäre, bei meiner Familie, feiern, sich wiedersehen und so.
Und merke: Nein.
Jetzt mal ganz unabhängig davon, das da einige Menschen, mit denen ich keinen Kontakt haben möchte, rumlaufen. Selbst wenn sich meine Familie nicht von ihrer hässlichsten Seite zeigen würde, denke ich an alle die vergangenen Familienfeiern zurück….
Was macht man da? Man trifft die Leute, die man öfter sieht und die, denen man nur ein paar mal im Jahr begegnet. Und dann bringt man sich gegenseitig auf den neuesten Stand, dein Lebens- Update. Was hat man gemacht, was ist passiert, wie liefs mit der Arbeit, plant man Kinder, ein Haus? Was für Pläne stehen an, wo will man hin, worauf arbeitet man gerade zu? Ich kam mir in den letzten Jahren immer so künstlich vor, ich war Fake. Meine Welt hat diese Kategorien der normalen Welt nicht mehr. Nach diesem Raster gibts nichts, was ich erzählen konnte, aber ich hab mir ein bisschen was aus den Fingern gezogen und in die Kategorien gepresst. Damit sich die anderen besser fühlen. Normal. Mein Cousin hat den Job gewechselt und zieht um? Ich habe auch gerade spannende Projekte (in meinem 400€ Job als Rentnerin mit 42😂🙄) Das ist doch alles mühselig. Und dann immer die Frage, natürlich: „Und? Wie geht es dir?“ In so einem leisen, vertraulichen Tonfall. Darf man ja nicht laut drüber sprechen, ist etwas ganz Intimes, Geheimes… das ist anstrengend. Und dann kommen noch die ganzen unbedachten Grobheiten: „Dieses Jahr nicht mehr, vielleicht nächstes Jahr, wir haben doch Zeit…“; „Dafür ist ja später immer noch Zeit genug“; „Also nächstes Jahr machen wir erst mal das und das kommt dann in drei Jahren, oder so, dran..“, “ die Dings ist jetzt auch am Krebs gestorben, ist auch besser so, jetzt hat sie es hinter sich, sie wollte auch nicht mehr, noch ein Wein?“
Das sagen dir die alle mitten ins Gesicht. Mit Unschuldsmiene. Ach, du lebst nächstes Jahr vielleicht gar nicht mehr? Hab ich ganz vergessen…
Nein, darauf mache ich denjenigen nicht aufmerksam. Auch nicht, wie verletzend es ist, wenn man mitkriegt, wie der eigene Tod selbst bald zu einem beiläufigen SmallTalk verwurstet werden wird…
Ja, komisch, fehlt mir alles irgendwie
nicht so.
Das war aber nicht von heute auf morgen so, das war eine langsames Entfernen von meinem alten Leben und von den Dingen, die darin noch wichtig waren.
Am Anfang, als ich die Diagnose bekam, hörte ich oft: „Jetzt lebst du dein Leben bestimmt viel bewusster und intensiver, das hat ja auch ein Gutes“ . Auch so ein Bösmüll. Krebs hat nichts Gutes, absolut rein gar nichts. Das sagen nur Leute, die kein Krebs (mehr) haben.
Ich dachte dann auch, man kann nicht jeden Tag auf einmal total bewusst und intensiv wahrnehmen, nur weil deine Tage jetzt gezählt sind. Aber mit der Zeit ( lange Zeit, 4 Jahre jetzt) hat sich doch meine Wahrnehmung geändert. Ganz schleichend ist mein Fokus ein anderer geworden. Vergangenheit und Zukunft sind nicht mehr so wichtig und geraten zunehmend außer Sichtweite. Während ich früher immer mit dem Kopf im Morgen war, ist es jetzt schwierig geworden weiter als an den heutigen Tag zu denken. Ich stehe morgens auf und denke, wie machen wir uns heute einen schönen Tag? Ich muss ziemlich aufpassen keine Termine zu verpassen und mache mir überall doppelt- und dreifach Erinnerungen, v.K. ( vor Krebs) hatte ich alles, alles immer im Kopf. Manchmal bin ich so sehr im Augenblick, dass ich mir schon dement vorkomme, weil ich überlegen muss, ob ich heute Nachmittag noch Pläne hatte? Und ich mag unaufgeregte Ruhe und Routine sehr. Jeden Tag treffe ich einen ganzen Schwung Menschen ( ist so, wenn man Hund hat) und dann sprechen wir über das was gestern war und heute wird. Und dann komme ich mir ganz normal vor und habe gar nicht das Gefühl, ich spiele etwas vor. Ich führe mit Anfang 40 ein gediegenes Rentnerleben 😉 und möchte eigentlich auch gar nicht so oft daran erinnert werden, dass mein Leben eigentlich ein ganz anderes sein sollte. Das gehört vielleicht auch schon zum Prozess des Abschiednehmens. Ich bin schon mit mehr als nur einem Bein in einer anderen Welt und sehe mehr zu, ganz entspannt, als dass ich Lust hätte mich mit den Dingen zu beschäftigen, die Gleichaltrige umtreiben. Ich erinnere mich selbst an meine Oma, in ihrem letzten Jahr.
Ich teile nicht mehr diesselbe Welt mit einer Vielzahl von Menschen, selbst meine eigenen Eltern sind mit Mitte 70 weit von meinem Lebensabendgefühl entfernt. Die haben ja noch so viel vor, so viel zu tun, so viel zu erledigen, freuen sich auch auf etwas. Ich freu mich, wenn ich mit dem besten Ehemann von allen einfach hier sitze und gucke. So ist das.
Was Sie schreiben, berührt mich.
Sie haben längst die richtige Entscheidung getroffen.
Weil Sie wissen: Das Leben ist kein Lebenslauf.
Es ist ein Werdegang.
„Auf dem richtigen Weg sind wir,
wenn wir ständig etwas hinter uns lassen können.“
(Ernst Ferstl. Jg. 1955, österreichischer Lehrer,
Dichter und Aphoristiker)
Ich wünsche Ihnen Oasen auf Ihrem Werdegang.
Da gibt es erfrischendes Wasser und viel Grün!
Grüße!
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Das Gefühl habe ich auch gehabt, als ich mitten in der Therapie war und nichts wusste, nur dass ich die jetzt brauche, da wurde mir auf einmal bewusst, dass die Gedanken an die Zukunft aufgehört haben. Ich will nicht sagen, dass es das gar nicht mehr gab, aber es war völlig unwichtig geworden. Das hier und jetzt, das ist wichtig geblieben, das hat sich auch nach vielen Jahren nicht geändert. Ich konnte damals in der Therapiephase mit dem vielen planen für „morgen“ nix mehr anfangen und war auch immer ziemlich verwirrt, wenn jemand von „wir wollen in drei Jahren… “ oder ähnlichem sprach. Das ist zwar nicht mehr so doll, aber ich merke schon, dass sich meine Welt verändert hat. Hier und jetzt.
Sende Dir die liebsten Grüße aus Zoutelande, wir sind da am Meer und leben aber sowas von im hier und jetzt!!
🧡💛
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Wenn ich hier so über deine Familie lese,passt das genau zu meiner Geschichte. Sei froh dasste nen tollen Ehemann hast, der dich dann wohl auch unterstützt,die Anderen brauchste nicht.(spar lieber die Kraft für die wichtigeren Sachen) Ist zwar traurig, aber ist halt so. Alles Gute weiterhin. Lg,SanDra
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Hat dies auf PortGeschichten rebloggt und kommentierte:
Als ich diesen Beitrag das erste Mal gelesen habe, war ich das letzte Mal mit Sue am Meer. Da wussten wir noch nicht, dass es das letzte Mal ist. Da sah sie noch agil aus, es ging ihr recht gut, wir nahmen uns vor, im nächsten Jahr… Tja, das Leben lässt sich nicht planen. Wünsche kann man haben, aber ob das alles so kommt, wer weiß es schon.
Meine Krebserkrankung liegt nun 10 Jahre zurück, aber ich plane noch immer nicht, wie 5Phasen es beschreibt, in die Zukunft. Noch immer nicht, vermutlich nie mehr. Ich plane das nächste Weihnachtsfest, den nächsten Urlaub… es sind immer diese Nächsten-Termine, aber drei Jahre im Voraus? Kann ich nicht mehr. Nicht mehr dieselbe Welt, das trifft es schon sehr genau.
Manchmal überfordere ich mich selber mit dem Denken an die Zukunft, dann merke ich, dass sie wie ein Nebelfeld ist, diese Zukunft, ich kann sie einfach an nichts Konkretem festmachen. Ich habe jetzt angefangen, meinen Krimi zu planen, das ist tatsächlich was, was Zukunft braucht, denn ohne Zeit kriegt man so ein Buch nicht fertig.
Habe ich Zeit? Ich stelle diese Frage nicht. Ich lebe. Solange wie ich eben lebe. Ich gelte als geheilt und das erfüllt mich auch mit wirklich riesengroßer Freude. Aber das Planen, das habe ich verlernt. Nun bin ich 62 und in Pension, da plant man eh nicht mehr, ein Haus zu bauen, die Stelle zu wechseln, wenn die Kinder aus dem Haus sind…
All das liegt schon hinter mir, hinter uns. Meinem Wandersmann ergeht es nicht anders. Und als wir jetzt heirateten, den Termin festmachten, da dachte ich immer wieder, das will ich noch erleben. Der Gedanke ploppte so auf, er ließ mich nicht in Ruhe. Also es war nicht so, dass ich es bezweifelte, so nicht, aber seit ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man zulassen muss, dass jedwede Planung vielleicht obsolet werden kann… seitdem ist planen für mich anders geworden. Völlig anders. Drei Jahre in die Zukunft planen? Nein, das kann ich nicht mehr. Da habe ich etwas verloren, von dem ich nicht weiß, ob ich es vermisse. Oder ob es einfach nur ein anderes Leben ist. Eben nicht mehr dieselbe Welt.
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Hallo Gabi, danke fürs rebloggen… Ich glaube dir sofort, dass man nicht mehr einfach zurück kann in sein altes Leben und die übliche Denkweise, dass die eigene Vergänglichkeit doch eigentlich nur auf dem Papier existiert. Und es gibt Dinge, die sind daran gut und andere nicht so gut, die Unbedarftheit ist weg, aber das Bewusstsein für das Hier und Jetzt ist gestärkt. Vielleicht das, was man überall unter dem schönen Begriff Achtsamkeit versteht. Andere müssen dafür jahrelang Kurse besuchen … 😉
Selbst wenn ich jetzt geheilt würde, wüsste ich, dass ich nicht mehr zurück könnte, in mein altes Leben.
Meine allerherzlichsten Glückwünsche zu deiner Hochzeit! Mögen du und deine Wandersmann noch tausende schöne Augenblicke im Hier und Jetzt genießen dürfen
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