Sterben lernen

Einen Tag nach dem letzten Beitrag hatte ich einen Termin bei Gamma Knife und diesmal wurde ich nicht so schnell entlassen. Neue Hirnmetastasen sind aufgetaucht. 4 Jahre Ruhe, jetzt sind sie wieder da, 2 Monate, nachdem ich eine neue Therapie begonnen hatte. Der Prof aus Köln sagte noch: „wenn denn Lorlatinib überhaupt wirkt…“.

Wo sitzt die Angst? Ein paar Zentimeter unter dem Solarplexus. Noch bevor sie im Fühlen und Denken angekommen ist, drückt und kribbelt es an dieser Stelle. Man sagt auch: „Mir ist das Herz in die Hose gerutscht“. Als ob im Innern etwas ins Rutschen gerät. So fühlt sie sich an.

Ich versuchte noch ein bisschen mit dem Neurologen zu feilschen, nicht so schnell die Hoffnung aufgeben, wollte ich üben, und fragte, ob wir nicht erst mal abwarten wollen, wie sich die Metastasen entwickeln. Aber Hoffnung hatte ich dabei keine.

Na ja, sagte der Neurochirurg, sie sind ja unter dem Medikament aufgetreten. Ja.

Ich komme nach Hause und zum ersten Mal seit 5einhalb Jahren sehe ich auch in den Augen vom besten Ehemann von allen keine Hoffnung, sondern nur Gewissheit.

Eine Woche später hatte ich den Eingriff mit dem Gamma Knife. Diesmal ein neues Verfahren, übrigens, ich habe die Maske bekommen: Man liegt, wie üblich, auf der Pritsche vor der Röhre und bekommt dann ein grob-gewebtes, erwärmtes Plastiktuch auf das Gesicht gelegt. Die Nasenlöcher sind frei, der Rest bedeckt, man kann noch etwas durch die groben Maschen blinzeln, aber nicht mehr lange. Das Tuch wird an mehreren Stellen rechts und links von deinem Kopf befestigt, gespannt. Dann beginnt es zu erkalten und zieht sich dabei immer mehr zusammen. Es wird auf deinem Gesicht immer fester und enger und drückt den Kopf nach unten und immer mehr in eine starre, unbewegliche Position. Das fühlt sich seeehr merkwürdig an und ist nichts für Klaustrophobiker. Dann heisst es, wie so oft, wie immer, Still halten! 30 min nicht bewegen, nicht husten, nicht die Nase rümpfen (vor allem die Nasenspitze nicht), nicht blinzeln, nicht schlucken. Ob sich die Ärzte und Pfleger überhaupt selbst vorstellen können, was sie dabei ihren Patienten abverlangen? 30 Minuten sind sehr lang…

Zwischen Gamma Knife und dem nächsten Lungen CT liegen 3 Wochen. Die drei Wochen kommen mir zwischendurch vor wie Urlaub. Ich bin nicht scharf auf die Worte „Austherapiert“. Kann gerne noch ein bisschen warten, ich hab (leider keine) Zeit.

Der beste Ehemann von allen und ich haben, unabgesprochen, beide den gleichen Zeitplan im Kopf: Frühjahr. Vielleicht schaffen wir es Ende April noch einmal ans Meer. Ab Juni existiert die Zeitrechnung nicht mehr.

Und wir bereiten uns vor. Ich begleite gerade eine Bekannte, sie liegt im Sterben und sie hat sich nicht vorbereitet. So wie bei ihr, haben wir vor Augen, wollen wir es nicht. Deshalb spreche ich mit dem Hospizverein, lass mich über Pflegemaßnahmen beraten, über ärztliche Versorgung zuhause, wir sprechen über Erfahrungen mit Hirnmetastasen- und Hirntumorpatienten, die zuhause sterben möchten. Der Beste von allen und ich sprechen übers Hospiz. Wir sprechen über Beerdigung und Gräber, wir sprechen über mein Erbe, womit eher mein digitales Erbe gemeint ist, denn das Sofa braucht der beste Ehemann von allen später noch selbst und Geld hat nur er. 😉 Darüber, was er ohne schlechtes Gewissen wegwerfen darf (ziemlich viel), über Elvis den Pudel und wie er als Alleinerziehender die Betreuung handhaben kann. Ich spreche mit Dr. Paradise, dem Psychoonkologen übers Sterben und sterben müssen. Es gibt nahe Freunde und entfernte Bekannte, die mir ihre konkrete Hilfe anbieten.

Und über all das Reden und Denken und Reden und Tun beginnt das, was da vor mir liegt, langsam Gestalt anzunehmen, greifbar zu werden, tatsächlich vorstellbar. Es wird tatsächlich passieren.

Es ist so unvorstellbar, dass die eigene Existenz endet und um so schlimmer, wenn du weißt, dass sie schon sehr bald endet und du nichts dagegen tun kannst. Und unvorstellbar, dass man sich dem doch langsam annähern kann, in kleinen Schritten begreifen und händeln kann, was so unfassbar scheint.

Es erscheint mir jetzt wie etwas, was ich hinkriegen kann, vielleicht. Ich kann es mir vorstellen, wie es sein wird, diese letzte Zeit. Unwägbarkeiten sind natürlich da, aber ich denke ich krieg es hin. Es fühlt sich nicht mehr so schlimm an. Hier habe ich Hoffnung.

Anfang Dezember kommt der Termin, das Lungen CT. Ich erwarte eine Lunge voller Krebs, ich bekomme eine Lunge mit weniger Krebs.

Was so unwahrscheinlich war, dass ich es mir gar nicht erhoffen wollte, dass die Hirnmetastasen wohl in einem sehr kleinen Zeitfenster im Sommer, dann aber rasant, gewachsen sind und anschließend, offenbar, schon von dem Medikament geschrumpft sind, ist tatsächlich wahr.

Jetzt ist wieder ein bisschen mehr Zeit.

Mein Gefühl ist ein ganz anderes: Ich habe es jetzt wirklich in jeder Faser meines Körpers, das Bewusstsein, das jetzt wirklich jede Minute zählt, dass meine einzige Aufgabe und Verpflichtung ist, mir und meinen Lieben jeden einzelnen Tag so schön wie möglich zu machen. Ich habe nur einen kleinen Aufschub bekommen. Und das Sterben gelernt.

Land in Sicht

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Ich hatte einen „richtigen“ Zweittermin mit dem Professor aus Köln, dem, der richtig Ahnung hat von Alk-Tumoren. Nicht nur eine Sekretärin zwischen Tür und Angel, sondern 20 min Gespräch am Bildschirm, was man heute eben so einen richtigen Termin nennt 🙂

Ich musste meinen Mut dafür zusammennehmen, denn „Getz kommt Butter bei die Fische“, wie man im Ruhrpott sagt, der gleich bei mir um die Ecke liegt.

In den ganzen 5 Jahren habe ich es bisher vermieden nach Prognosen zu fragen, ich wollte auf keinen Fall eine Zeitangabe, ich wollte auf keinen Fall den großen Überblick, ich wollte nur wissen, wie ich bis zur nächsten Ecke komme. Nur die nächsten drei Schritte, die ich gehen muss, bitte.

Und es gab ja auch immer noch ein nächstes Medikament, und es gab ja immer noch eine Studie, und da wurde ja in USA schon wieder an irgendwas geforscht. Aber jetzt nicht mehr.

Manche fragen direkt bei der Diagnose: „Wie lange habe ich?“, manche schließen die Augen davor, bis zum Schluss und verdrängen ganz, dass sie krank sind. Manche hoffen und glauben einfach an keine Prognose, „Ich bin keine Prognose, ich bin keine Leitlinie und keine Statistik“ schreien sie und sie haben ja auch Recht damit. Es gibt immer die paar großen Ausreißer, an die man sich klammern kann.

Für mich ist es Zeit, mich jetzt zu konfrontieren. Ich will nicht mehr die Augen zu machen, ich will mich keiner Hoffnung auf Eventualitäten hingeben, ich will wissen und annehmen was ist. Ich bin gewachsen an meiner Krankheit, in den letzten 5 Jahren. So lange weiß ich schon, was irgendwann unweigerlich auf mich zukommen wird. Und jetzt ist Irgendwann vorbei.

Der Prof aus Köln ist ein sehr netter und erfahrener Onkologe, einer der Zuversicht ausstrahlt, wo keine ist. Einer, der gut schlechte Nachrichten überbringen kann. „Nein, es gibt kein weiteres Medikament, nach dem, was ich jetzt nehme, nein auch nicht in der Studie, auch nicht irgendwo auf der Welt in einem Zulassungsverfahren. Ja, TP 53 macht, dass die Therapie wenig und kurz anschlägt, auch die Chemo und die Immuntherapie. Im Moment weiß er von keiner Studie, in die ich anschließend könne. Man muss eben, wenn das Medikament nicht mehr wirkt (wenn es denn überhaupt wirkt, das wissen wir ja gar nicht), testen, testen, testen. Und weitersehen. Wir können nur eben nicht weit gucken.

Es war nicht so schlimm, es fühlt sich nicht schlimm an. Es fühlt sich an, wie: Ja, in Ordnung.

Ich merke, wie ich seitdem die Zeit tatsächlich noch viel bewusster wahrnehme, mehr als in den vergangenen Jahren, in denen ich ja auch schon darauf geachtet habe, mir einen schönen, lebenswerten Tag zu machen. Ich merke, wie ich den Horizont vor Augen habe und er näher kommt. Ich muss Vorbereitungen treffen.

Und trotzdem ist jetzt Leben und man kann es nur so leben, als ob es nie enden würde.