Weiter, immer weiter, geradeaus

geht es, auch nach schwereren Einschlägen. Meine Entscheidung nach dem Geburtstag meines Vaters einen Schlußstrich zu ziehen, war eine Gute. Ich habe schon ein paar Tage später gemerkt, dass ich wieder Lust habe etwas zu machen, etwas Neues anzufangen, aktiv zu werden. Diesen Mist von meinen Schultern zu schütteln, der mich so runterzieht.

Im September habe ich eine Weiterbildung zur Musikpädagogin angefangen, eine kleine, nicht die ganz große, da gibt es nämlich erhebliche Unterschiede. Und ich will ja keine Amtsanmaßung betreiben. Die kleine reicht für mir, sie geht über ein Jahr in vier Blöcken und wie immer war es total nett, sich in so einem Kontext aufzuhalten. Ich durfte schon ein paar Mal die Erfahrung machen, wie es ist, wenn sich eine Gruppe fremder Menschen zusammentut, um gemeinsam etwas Neues zu lernen. Mir macht das Spaß. Das Neue, die Anderen, das gemeinsame Erleben, das Kennenlernen, die Herausforderung. Wir haben uns massiert, gesungen, unseren Körper als Instrument eingesetzt, gespielt. Und abends gequatscht, Wein getrunken und getanzt. Es ist witzig, was für spezielle Individuen durch unsere Welt laufen. Ich finde das super!

Das hört sich jetzt wahrscheinlich alles ein bisschen nach Biolatschen an und ist eigentlich auch nicht so meine Welt. Ich bin gerade körperlich ein etwas distanzierterer Mensch, Massagen und zu viel Nähe mit fremden Menschen ist nicht so meins. Aber ich bin ja nicht erst seit gestern Pädagogin, was soll ich sagen, das gehört dazu, ich kenn das und kann mich dann auch drauf einlassen. Isch kenn ja meine Pappenheimer. Und ich trage auch gerne Ringelshirts, ich kanns nicht leugnen, ich gehör dazu (Schulterzuck).

Bloß auf dem Rückweg hats mich ein bisschen kalt erwischt. Eine Teilnehmerin wohnt direkt bei mir ums Eck und hat mich im Auto mitgenommen. Sie erzählt so ein bisschen ihren Werdegang und was sie mit dieser Fortbildung vor hat und wie sie sich ihre berufliche Zukunft vorstellt und fragt mich dann plötzlich, unvermittelt: „Und was sind deine großen Träume für die Zukunft?“ – Äh, öh, ja, öh… da kam ich doch mal kurz ins Stottern, meine großen Träume für die Zukunft.. bäääh, wer braucht denn sowas?

Mein Antwort war dann auch so ein unverbindliches, lahmes Gebrabbel, dass keine weiteren Nachfragen kamen. Soll sie mich ruhig für langweilig und uninspiriert halten, mir egal. Ich fühle mich inzwischen ziemlich frei, meine Krankheit zu erwähnen oder es eben zu lassen, ganz wie es mir spontan passt.

Als nächstes werde ich mein Portfolio der kleinen Helferlein noch etwas aufstocken. Ich mache einen Termin in der Uniklinik Köln, um zu überprüfen, ob ich bei meinem jetzigen Onkologen noch gut aufgehoben bin. Dafür bräuchte ich eigentlich eine Kopie meiner Krankenakte, aber es muss wohl ohne gehen, denn da müssen erst mal die Arztbriefe nachgeschrieben werden, mit denen er seit einem Jahr in Verzug ist. Könnte man jetzt auch schon als Antwort für oben genannte Frage sehen, aber das möchte ich dann noch mal mit den Profis aus Köln bekakeln. Da die Ergebnisse meiner Biopsien eh immer dort landen, haben die ja schon mal die wichtigsten Daten über mich.

Dann steht ein Termin mit einer Neurologin an, um endlich mal die Migräne zu bearbeiten, die ich seit den Hirnmetastasen ab und zu habe. Dann gibt was Neues, auch ein Fall für die Neurologin: Polyneuropathien, seit ein paar Wochen zwickts in den Fingerspitzen und den Zehen. Kein besonderer Aufreger, aber lieber immer schön alles anmerken. Und zu guter Letzt möchte ich mich mit einem Antidepressivum versorgen.

Ich habe jetzt Monate darüber nachgedacht. In meinem Leben wechseln sich seit der Diagnose Phasen ab, in denen ich besser oder auch schlechter mit meinem Schicksal umgehen kann. Dass ich keine Familie mehr habe, hat mein Leben (erst mal) nicht reicher gemacht. Ich habe sehr gelitten, aber jetzt das Gefühl, ich habe mich genug daran abgearbeitet, es verarbeitet, Konsequenzen gezogen und etwas mehr Ruhe tritt wieder in mein Leben ein. Es gab diese Momente, in denen ich darüber nachgedacht habe, die Therapie abzubrechen und dem Krebs seinen Lauf zu lassen. Nachdem ich meine Gesundheit, meine Zukunft, meinen Beruf, meine Karriere, meine möglichen Kinder und mein mögliches Eigenheim verloren hatte, hat mich meine Familie entsorgt und /oder total in Stich gelassen. Was bleibt noch? Wozu? Vielleicht für einen Ehemann und einen kleinen Pudel, hat der beste Ehemann von allen dann vorsichtig eingewandt.

Ach ja stimmt, da war ja noch was 😉

Ich habs begriffen, gucke nach vorn, aber Wundschmerz bleibt natürlich und ich denke, ein Antidepressivum könnte mir helfen, mich zu stabilisieren. Ich habe ein bisschen Angst, dass mich das Zeug zudröhnt, ich nix mehr mitkriege, aber eine Freundin hat mich bestärkt. Sie nimmt seit Jahren Antidepressiva, weil eine Nebenwirkung ihrer MS-Medis Depressionen sind. Ich probiere das jetzt aus. Grundsätzlich bin ich erst mal allen Drogen, die die Schulmedizin zu bieten hat, gegenüber aufgeschlossen und nicht mehr länger bereit mehr Schmerz als nötig zu ertragen, sei es körperlich oder seelisch. Ich hatte in den letzten Jahren mehr als genug von beidem. Her mit den bunten Pillen 😋

Ein Gedanke zu “Weiter, immer weiter, geradeaus

  1. Schön von Dir zu lesen, auch wenn es schwere Kost ist. Familie ist manchmal… einfach nur schrecklich. Und machmal ist eine Trennung unausweichlich, nicht alle eignen sich als Familie, da kann auf der Lebenstüte noch so viel Familie drauf stehn, nicht immer ist da eine drin!
    Mit den bunten Pilllen wünsche ich Dir viel Erfolg!
    Und wenn Du mal wieder Lust auf einen Spaziergang mit den Hunden hast, melde Dich!
    Wir sind grad im Schwarzwald und erholen uns von… rischtisch: Familie!!
    😛

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